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Wir hätten uns alles gesagt Judith Hermann

Mittwoch, 19. April 2023
Advertorial
Wir hätten uns alles gesagt
von Judith Hermann
Fischer Verlag
.
23 €

Einen für mich entscheidenden Kontext über die Entstehung ihres neuen Buches hat Judith Hermann nach ihrer Lesung bei mir in der Buchhandlung abseits der Bühne offenbart: Sie hätte diese Geheimnisse natürlich nie aufgeschrieben, wenn sie von vornherein gewusst hätte, dass daraus mal ein Buch werden würde, dass sie damit auf Lesereise gehen würde, dass sie mit Fremden über die Intimitäten würde sprechen müssen.

Der Text sei eben so intim geworden, weil er für eine einmalige Vorlesung geschrieben sei, ohne dass jemand mitliest, ohne dass jemand Fragen dazu stellt, ohne dass alles auf Persönlichkeitsrechte und Wahrheitsgehalt abgeklopft wird.

Und so ist eben dieser Text geworden: Sehr intim, sehr liebevoll, aber auch sehr hart und traumatisch. Total offen und doch auch wieder verkünstelt. Judith Hermann setzt hier ziemlich viel aufs Spiel – so etwas kann ja auch schiefgehen, kann eitel und selbstverliebt werden – ist hier aber poetisch, aufrichtig und ziemlich tiefgreifend beeindruckend.

Das beginnt mit einer wundervoll leichten Szene, an der man vielleicht verdeutlichen kann, was in diesem Buch geschieht: Judith Hermann begegnet nachts im Späti auf der Kastanienallee ihrem ehemaligen Analytiker Dr. Dreehüs. Sie folgt ihm in die Kneipe Trommel und schließlich trinken beide gemeinsam einen Gin Tonic.

Von dieser Anekdote aus erzählt sie von dieser Analyse, von der Freundin, die ihr den Analytiker empfohlen hat und kommt schließlich zu ihrer eigenen Erzählung Träume aus dem Band „Lettipark“, in der ebenfalls ein Analytiker und eine Freundin vorkommen, die aber nicht genaue Abbilder der realen Personen sind: „Das ist es, was ich schreibe: Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang“. Oder, um es mit Dr. Dreehüs zu sagen: „Was für eine unermüdliche Detailarbeit, alles so geschickt zu verfremden, zu entstellen, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr.“

Ihnen dieses konsequente Buch zu umschreiben, fällt mir ziemlich schwer. Alles, was herauszustellen wäre, trifft nicht den richtigen Ton und meint nicht den richtigen Gedanken. Judith Hermann spielt ein so berührendes Spiel zwischen Schweigen und Offenbarung, dass es einfach nur eine Freude ist, daran teilzuhaben.

Nehmen wir als Beispiel einfach den Titel „Wir hätten uns alles gesagt“. In einer solch beiläufigen Verdichtung ist Judith Hermann die große Meisterin, im Eröffnen von Möglichkeitsräumen, im Andeuten und wieder zurücknehmen. Und das alles in dieser kurzen Sentenz „wir hätten uns alles gesagt“! Darin steckt einerseits eine große Sehnsucht, dann erscheint es mir auch als Fragment, weil da ein Satzteil zu fehlen scheint, und dann ist da auch etwas Verpasstes drin, weil wir es eben nicht gesagt haben, sondern nur gesagt hätten. Oh weh, und oh, wie schön.

Allen Creme-Guides-Leser*innen sei noch ein besonderer Moment geteilt: Ich hatte mir von Judith Hermann eine Passage zu lesen gewünscht, in der es um ihren Freund Marco geht, der Teil ihrer Wahlfamilie gewesen ist, sehr frei und künstlerisch, bevor er an multipler Sklerose erkrankte und starb.

Diese Episode steht im Buch ganz für sich, sie zeigt paradigmatisch alle Kraft und Sensibilität der Judith Hermann. Sie hat diese Passage gelesen und im Anschluss haben wir das Licht ausgemacht und das Lied gehört, dass Marco im Sommerhaus immer gesungen hat: „Buenas Tardes Amigo“ von Ween. Die Musik löste die emotionale Schwere des Textes wieder auf und wir hörten gemeinsam, dicht gedrängt sitzend, dieses 7-Minuten-Lied.

Lesen und hören Sie das gerne nach (S. 44 bis 50), zelebrieren Sie dieses Buch, feiern Sie mit mir den Mut dieser großen Autorin!

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