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Erbe und Erinnerung Von Familie, Zahlen und dem, was bleibt

Dienstag, 08. Juli 2025

Über die Autorin

Zoë Schlär ist seit fast 20 Jahren Mediatorin und versteht sich als Übersetzerin in Konfliktsituationen – sowohl im Beruflichen als auch im Privaten. Zudem ist sie Ausbilderin für Mediation, Trainerin und Systemischer Businesscoach. Für Creme Guides schreibt sie über festgefahrene Situationen, neue Begegnungsräume und das gegenseitige Verstehen, um nachhaltige Veränderung zu erreichen.

Annabel ist die Halbschwester. Vom Vater wie eine eigene Tochter aufgenommen, hat sie ihren Platz in der Familie – und manchmal auch nicht. Jetzt sitzt sie mit Celine und Benno, ihren beiden Geschwistern, am Tisch. Die Mutter ist schon lange tot, der Vater vor Kurzem verstorben. Es geht um das Haus.

Celine möchte einziehen. Mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Sie will das alte Haus nicht einfach nur übernehmen – sie möchte es wieder mit Leben füllen. Stimmen in den Räumen, Alltag, Besuch am Wochenende, vielleicht ein neuer Birnenbaum im Garten. Es geht ihr nicht nur um Besitz, sondern um Verbundenheit. Um das, was bleibt, wenn so vieles sich verändert hat.

Die Idee: Sie zieht ein, zahlt Annabel und Benno aus. Ein Gutachten liegt bereits vor, es nennt nüchterne Zahlen. Doch das, was in diesem Haus steckt, ist mehr als Marktwert. Der Vater war Künstler, Autor, ein stiller Mensch mit einem wachen Blick. In seinem Arbeitszimmer liegt eine Sammlung handgeschriebener Gedichte. Unveröffentlicht, ungeordnet, aber voller Bedeutung. Für ihn. Für die Kinder. Vielleicht für die Welt?

Was davon ist Teil des Erbes – und was Teil der Erinnerung? Was zählt, was wiegt, was lässt sich beziffern? Und was nicht?

Annabel steht irgendwo zwischen den Linien. Nicht außen vor, aber auch nicht mittendrin. Wie die Mutter ist auch sie geschieden und neu verheiratet. Sie spürt Spannung, kennt die verletzlichen Stellen in der Familiengeschichte, weiß, wie schnell man sich verhakt – in alten Mustern, neuen Kränkungen, unausgesprochenen Fragen. Sie will Gerechtigkeit. Und Frieden. Beides zugleich.

Benno sagt wenig. Das war schon immer so. Ob aus Schutz, aus Unsicherheit oder aus der Angst, mit einer Meinung gleich eine Entscheidung treffen zu müssen – es bleibt offen. Sein Schweigen ist keine Abwesenheit. Eher ein anderer Ausdruck von Unsicherheit und von Traurigkeit. Denn er hat keine eigene Familie. Keine Kinder, kein Zuhause, das er teilen könnte. Und vielleicht ist genau das der wunde Punkt, der ihn in dieser Situation noch stiller macht.

So wird verhandelt. Über Zahlen, über Vorstellungen, über das, was geht – und über das, was sich nicht verrechnen lässt. Kein Streit im klassischen Sinn, eher ein Ringen um Anerkennung, um Zugehörigkeit, um eine Lösung, die nicht alles kaputt macht, sondern Zukunft birgt.

Eines wird sehr deutlich: Jede Familie funktioniert anders. Hat ihre eigene Geschichte, ihre eigene Art zu streiten, zu schweigen, sich zu versöhnen. Es gibt keine one-fits-all-Lösung. Geld und Emotionen stehen selten im gleichen Maßstab. Aber es gibt Wege – wenn man bereit ist, offen zu sprechen. Wenn alles auf den Tisch darf. Auch das, was weh tut. Auch das, was unbezahlbar ist.

Dann wird vielleicht mehr möglich, als man denkt. Und vielleicht – ganz vielleicht – kann dieses Haus, das so vieles war, nun etwas Neues werden: ein Ort der Begegnung. Für Celine und ihre Kinder, für Annabel und ihre neue Familie und auch für Benno. Für die Kunst, für Erinnerungen, für Zukunft und für all das, was Familie ist – in ihrer ganzen Komplexität.

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