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Unvollkommenen Wenn das Ja zur Selbstfürsorge wird

Dienstag, 13. Mai 2025

Über die Autorin

Zoë Schlär ist seit fast 20 Jahren Mediatorin und versteht sich als Übersetzerin in Konfliktsituationen – sowohl im Beruflichen als auch im Privaten. Zudem ist sie Ausbilderin für Mediation, Trainerin und Systemischer Businesscoach. Für Creme Guides schreibt sie über festgefahrene Situationen, neue Begegnungsräume und das gegenseitige Verstehen, um nachhaltige Veränderung zu erreichen.

Es ist dieser eine Moment. Ein kurzes Innehalten. Eine Millisekunde der Reflexion zwischen Impuls und Antwort. Das winzige Wort, das alles verändern kann: Nein. Sie sitzt mir gegenüber, eine Frau, die auf den ersten Blick alles perfekt zu haben scheint. Erfolgreiche Karriere, wertschätzendes Team, spannende berufliche Perspektiven. Eine Frau, die funktioniert. Eine Frau, die leistet. Eine Frau, die trägt – und trägt – und trägt.

Die Pflege der Mutter im Heim. Der pubertäre Sohn, der zwischen Rebellion und Geborgenheit pendelt. Der beruflich oft abwesende Partner. Der Hund. Der Garten. Der Verein. Die Freundinnen. Und mittendrin: sie. Oder besser gesagt: nirgends.

Was bedeutet eigentlich Verantwortung? Ist es das sklavische Abarbeiten einer endlosen To-Do-Liste? Oder ist es die bewusste Entscheidung, auch für sich selbst Verantwortung zu übernehmen?

Im Coachingprozess fingen wir gemeinsam an, diese Fragen zu betrachten. Mit jedem Gespräch löste sich etwas in ihrem Gesicht. Als hätte jemand einen Schleier wegzogen. Als wir über ihre Prioritäten sprachen, begann sie erstmals zu lächeln. Nicht das höfliche Lächeln aus Pflichtbewusstsein, sondern eines, das von innen kommt. "Muss es immer perfekt sein?", fragte ich sie. Ihre Augen weiteten sich, als hätte ich einen heiligen Grundsatz in Frage gestellt. Und genau das hatte ich.

Der Schlüssel liegt manchmal in der Unvollkommenheit. In diesem zauberhaften Moment, in dem man akzeptiert, dass nicht alles perfekt sein muss. Dass ein Rasen nicht millimetergenau gemäht sein muss. Dass ein Abendessen auch mal aus Tiefkühlpizza besteht. Dass man nicht bei jedem Elternabend, jeder Vereinssitzung, jeder Familienaktivität präsent sein muss.

Dieses Ja gegen die eigene Erwartungshaltung ist ein ganz besonderes, denn es ist ein Ja zu sich selbst. Es ist der Moment, in dem man innehält und sich selbst fragt: Will ich das wirklich? Brauche ich das? Was geschieht, wenn ich es nicht tue?

"Es war wie ein Aha-Moment", erzählte sie mir in unserer letzten Sitzung. "Als hätte jemand ein Fenster geöffnet und frische Luft hereingelassen." Doch leicht fiel es ihr nicht. Anfangs wehrte sie sich gegen die Vorstellung, auch nur einen Zentimeter von ihren eigenen Standards abzuweichen. "Ein gewisses Maß an Ordnung brauche ich", gestand sie. "Ich kann nicht in vollkommenem Chaos leben."

Und das ist in Ordnung. Veränderung ist kein radikaler Schnitt, sondern ein behutsamer Prozess. Ein sanftes Umlernen. Ein schrittweises Loslassen. So begann sie mit kleinen Experimenten. Eine nicht perfekt gebügelte Bluse. Ein Abend ohne Hausarbeit. Eine Woche, in der der Garten einfach Garten sein durfte. Mit jedem kleinen "Nein" zur Perfektion gewann sie ein Stück mehr von sich selbst zurück.

Selbstfürsorge ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Sie ist die Kunst, Grenzen zu ziehen. Sie bedeutet, nicht alles zu 100 Prozent zu machen, sondern die wichtigen Dinge mit Hingabe und Präsenz zu gestalten.

Ein Nein kann befreiend sein. Es schafft Raum. Luft zum Atmen. Zeit für sich selbst. Die Perfektion ist eine Illusion. Das Leben ist ein dynamisches, unordentliches Kunstwerk – und nicht ein starres Konstrukt aus Erwartungen und Pflichten.

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