Als die Maßnahmen zur Einschränkung der Corona-Pandemie langsam ausliefen, stiegen die Erwartungen auf bald erscheinende Corona-Romane, auf eine künstlerische Verarbeitung offener gesellschaftlicher Wunden. Was dann folgte, hat die Annahmen gekonnt unterlaufen: Keine tagebuchartigen Aufzeichnungen klaustrophobischer Enge, keine detailreich ausgeschmückten Familienkriege, noch nicht mal blank liegende Nerven.
Stattdessen erschienen atmosphärisch interessante Romane, in denen Geschichten von Transformationen erzählt werden, von grundlegenden Veränderungen in persönlichen Lebensläufen. Deborah Levys Roman Augustblau war ein solcher, und das neue Buch der Amerikanerin Sigrid Nunez ist es ebenso.
Die Pandemie ist hier nicht Hauptzweck des Erzählens, der Roman ist keine Virus- oder Gesellschaftsdiskussion, vielmehr bildet die Pandemie hier einen Impuls, um eine Geschichte von Verletzlichkeit zu erzählen. Sigrid Nunez ist keine Chronistin, sie versucht uns auch nicht, mit Geschichten ihre Version von Gesellschaft näher zu bringen, sondern sie schreibt eine Literatur der persönlichen Geschichten und Reflexionen.
Und auch wenn sie von Fremden und aus der Fremde erzählt, so doch immer mit diesem besonders nah gehenden, von Empathie und Würde geprägten Blick auf die Menschen.
Die Erzählerin erhält eines Tages eine E-Mail mit der Bitte einer Freundin, sich um ihren Papagei Eureka zu kümmern, da sie aufgrund der Reiseeinschränkungen auf unabsehbare Zeit nicht nach Hause kommen wird und der bisherige Vogelsitter plötzlich und unangekündigt abgereist sei.
Also macht sie sich auf, das temperamentvolle und gesellige Tier täglich zu besuchen, mit ihm zu spielen, ihn zu beobachten – und zieht schließlich bei ihm ein. Die Schilderungen der Beziehung zum Papagei, von dessen Lebensbedingungen und der menschlichen Sehnsucht nach einem Tier als Gefährten, sind verblüffend klar und gedanklich präzise.
Die aufkeimende Freundschaft zu dem Tier wird jedoch durch ein zunächst als skandalös wahrgenommenes Eindringen eines Jugendlichen empfindlich gestört. Denn der Vogelsitter kehrt eines Tages unangekündigt zurück. Die Erzählerin hatte sich so sehr im Luxusapartment ihrer Freundin eingerichtet, dass ihr die unfreiwillige Gesellschaft dieses jungen Menschen unangenehm auf den Leib rückt.
Hat sie sich bisher gerne und großmütig als Schützende gezeigt, wird sie durch die Anwesenheit des jungen Mannes schlagartig zu einer Verletzlichen. Gerade in dieser Zwangsgemeinschaft tönt das Leitmotiv des Romantitels am lautesten. Nur das eben die Unterscheidung, wer zu den Verletzlichen gezählt werden kann und wer nicht, immer unschärfer wird, je näher sich die beiden kennenlernen.
Und wie Nunez die kleinen Gesten der Fürsorge erzählt, wie sie uns Leserinnen und Leser an diesem intimen Raum der Gemeinschaft teilhaben lässt, hat etwas Tröstliches. Nunez lesen ist in den besten Momenten, wie einen alten Freund zu treffen: Der offene Blick in ein anderes Leben, gemeinsames Nachdenken, sich geborgen fühlen.