Immer schön langsam mit diesem Buch! Nicht hektisch lesen, nicht ungeduldig werden, auch mal durchatmen und die durchaus heftige Abgründigkeit der Geschichten spüren. Ja, es kribbelt gruselig beim Lesen, der Gänsehautfaktor dieser Geschichten ist immens hoch. Und trotzdem: Nicht vorschnell urteilen.
Die französische Starautorin Yasmina Reza war ja immer schon die Meisterin gebrochener Oberflächen und gerissener Zivilisation. Dass sie sich nun den „Rückseiten des Lebens“ zuwendet, ist überhaupt keine Überraschung. In 54 kurzen szenischen Textstücken erkundet sie die Fallhöhe menschlicher Lebensentwürfe. Zum einen sind da persönliche Berichte aus ihrem eigenen Leben, sie erzählt von zerbrochenen Freundschaften und tragischen Familienszenen. Zum anderen hat Yasmina Reza über Jahre Strafgerichtsprozesse verfolgt und stellt diese Fälle nun knapp und lakonisch dar.
Obwohl es in manchen Szenen schon interessant wäre zu erfahren, wie die Justiz die Schuldfrage letztlich bewertet hat, ist es besonders spannend, dass sich Yasmina Reza nicht als Richterin versteht. Sie belegt hier keine Urteile und echauffiert sich nicht etwa darüber, wie so etwas überhaupt geschehen konnte. Nein, Yasmina Reza ist eher eine Gerichtsreporterin, sie erzählt zurückhaltend von dem, was sie vor Gericht gehört, was sich zugetragen hat. Die Urteile sind nicht verzeichnet. In dieser Lücke der ansonsten auf Urteilen fokussierten Gerichtsbarkeit, wird eine Offenheit ins Spiel gebracht, die als großzügige Unvoreingenommenheit allen Beteiligten gegenüber zu bewerten ist.
Die Texte sind karg und doch von eindrucksvoller Handwerkskunst. Selbst einen 2-seitigen Text über eine befreundete Ärztin, die seit neuem den Blick abwendet, sobald sie ein sich küssendes Paar sieht, weil „ihr Körper das nicht mehr mitansehen kann“, selbst ein solch einfacher Text ist so geschickt um einen persönlichen Abgrund dieser Ärztin herum geschrieben, dass man nicht in der Lage ist, dessen Zentrum zusammenzufassen. Reza spürt und ahnt etwas Dunkles, Rückseitiges und versucht sich dem anzunähern.